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Junge Menschen, alte Stoffe
Schülerinnen und Schüler bei der Spurensuche in Denkmalen europäischer Textilindustrie

Wer sich in Aachener Tuche hüllte, der demonstrierte Wohlstand und Qualitätsbewußtsein - so war es zumindest in früheren Zeiten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren die edlen Stoffe, die in den unzähligen Fabriken in und um Aachen hergestellt wurden, auf dem internationalen Markt gefragt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es immerhin noch rund hundert Betriebe - in diesem Sommer hat das letzte renommierte Familienunternehmen Konkurs angemeldet. Damit ist eine über tausendjährige Tradition der Textilherstellung zu Ende gegangen. In Zeiten von Massenproduktion und Billigimporten könnte diese leicht in Vergessenheit geraten. Dafür, daß das wichtige Kapitel der Stadtgeschichte nicht achtlos zugeschlagen wird, sorgen schon seit einigen Jahren Schüler des Aachener Kaiser-Karls-Gymnasiums.

Bereits im frühen Mittelalter hatte sich das Tuchgewerbe im heutigen Dreiländereck entwickelt. Die vielen kleinen Bäche mit ihrem sauberen, weichen Wasser und die Anbindung an wichtige Handelsrouten boten beste Voraussetzungen. So siedelten sich immer mehr Wollwasch- und Walkmühlen, Spinnereien und Färbereien an. Auch bei der Industrialisierung nahmen die Aachener Tuchfabriken eine Vor- reiterrolle ein: 1816 kam hier bereits die erste Dampfmaschine zum Einsatz. Naturgemäß florierten in der Region auch die Zulieferbetriebe, die vom Schermesser bis zur Webmaschine die nötige Ausrüstung herstellten.

Gefördert von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und angespornt von Jochen Buhren, Lehrer für Deutsch, Politik und Sozialwissenschaften am KKG, haben sich mehrere Schülergenerationen mit den Grundlagen der Industriedenkmalpflege auseinandergesetzt und Zeugnisse der Textilherstellung in der heutigen Euregio aufgespürt. Seit 2002 beteiligen sie sich an "denkmal aktiv", der bundesweiten Schulaktion der Stiftung. So erschloß eine Klasse der Jahrgangsstufe 10 eine textilgeschichtliche Route entlang des Wildbaches und der Soers nahe Aachen-Laurensberg. Mit Hilfe eines Faltblattes können Spaziergänger nun die Entwicklung der Mühlen zu Färbereien und Spinnereien nachvollziehen.

Als ehrgeizigstes Projekt verfolgen Schüler des KKG tatkräftig den Aufbau des Textilmuseums Aachen. Träger ist der 2003 gegründete "Verein zur Pflege der Aachener Textilindustrie-Geschichte e.V.", der vom Rheinischen Industriemuseum fachlich unterstützt wird. Mit der idyllisch gelegenen Komericher Mühle in Aachen-Brand wurde ein erster authentischer Standort gefunden: Die im 18. Jahrhundert zur Walkmühle umgebaute Anlage beherbergte zuletzt die 1960 geschlossene Streichgarnspinnerei Kutsch. Die Fabrikgebäude hat der neue Eigentümer inzwischen restauriert, die Wasserturbine und Teile der Transmissionsanlage sind noch vorhanden.

Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtete Shedhalle bietet Platz für eine Ausstellung verschiedener Spinn- und Webmaschinen. Unter der Anleitung von ehemaligen Textiltechnikern haben die Gymnasiasten bei der Restaurierung und Montage der historischen Stücke mitgewirkt. Auf die Krempelmaschine aus der Zeit um 1810, eine der ersten auf dem europäischen Festland, ist man besonders stolz. Darüber hinaus haben die Jugendlichen maßgeblich dazu beigetragen, die Sammlung zur Textilgeschichte der Region aufzubauen, indem sie in Firmenarchiven Werkzeuge, Musterbücher und Stoffproben aufstöberten.

Im vergangenen Schuljahr haben KKG-Schüler in Kooperation mit Schulteams am Aachener Geschwister-Scholl-Gymnasium sowie am Sintermeertencollege im holländischen Heerlen für "denkmal aktiv" Bauten der Wolltuchindustrie in Aachen, Eupen und Verviers erkundet und dokumentiert. Auch in Verviers ist die Textilproduktion längst im Niedergang begriffen: Das belgische Grenzland ist heute eine Gegend mit zum Teil hoher Arbeitslosigkeit. Die Schüler erhielten wichtige Hinweise vom dortigen Textilmuseum, konnten in verlassenen Fabriken aber auch eigene Entdeckungen machen, aufschlußreiche Dokumente aufstöbern und manch seltene Maschine aus der Versenkung holen. Die Ergebnisse haben sie in einer Ausstellung zusammengefaßt, die derzeit in Aachen zu sehen ist und im Winter in Verviers gezeigt werden soll. Bei dem Projekt wurde das Aachener Schulteam auch von einer belgischen Schule in Verviers unterstützt.

Wenige Wochen vor Eröffnung der Ausstellung zur Textilindustrie im belgischen Grenzraum sitzt eine kleine Arbeitsgruppe im Keller des Kaiser-Karls-Gymnasium zusammen. Auch Ehemalige sind mit dabei, die das Abitur längst in der Tasche haben, sich dem Projekt aber weiterhin verbunden fühlen. Es ist Zeit, die Bildauswahl für die Tafeln zu treffen. Zur Disposition stehen auch historische Fotos von mittlerweile abgerissenen Fabriken in Verviers. Lehrer Buhren gibt zu bedenken, daß diese Dokumente bei den belgischen Nachbarn vielleicht nicht gut ankommen. Die Schüler sehen das ganz anders: "Warum sollen wir das nicht zeigen? Schließlich forschen wir in der Vergangenheit!" - "Und wenn sie sich angegriffen fühlen ... Hier wurde kulturelles Erbe zerstört, das müssen wir doch anprangern!" Es entbrennt eine Diskussion, die zugleich einen Erfolg der Aktion "denkmal aktiv" markiert: Die Bewußtseinsbildung hat ganz offensichtlich funktioniert. Längst haben die Schüler ein sicheres Gespür für den Wert von Denkmalen entwickelt. Und was noch schöner ist: Sie möchten es weitergeben!

Auch im laufenden Schuljahr 2005/2006 wird das Kaiser-Karls-Gymnasium von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz gefördert. Diesmal hat Projektleiter Jochen Buhren eine ganze Klasse eingespannt. In den Unterrichtsfächern Politik und Kunst setzt sich die 10c mit musealer Umnutzung von historischen Industriebauten auseinander. Drei Industriegeschichts- und Technikmuseen der Euregio wollen die Schüler genauer betrachten. Vermittelt von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz sollen sich die Aachener dabei federführend mit zwei weiteren Gymnasien in Berlin und Crimmitschau austauschen.

Solche Netzwerke, an denen auch Schulen aus dem europäischen Ausland beteiligt sind, haben sich schon im vergangenen Jahr bewährt. Je weiter der Blick über den Tellerrand geht - um so besser läßt sich mit Kulturerbe Schule machen.

aus: Monumente 9/10, 2005