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Physik und viel Phantasie
Was man aus einem alten Umspannwerk alles machen kann

"Imaginata" steht in großen Lettern an dem wuchtigen Backsteingebäude in der Löbstedter Straße im Norden Jenas. Bei den eisigen Temperaturen, die Ende März bei unserem Besuch von "Imaginata" herrschen, bedarf es nicht großer Vorstellungskraft, um sich die rauhe und industrielle Arbeitswelt früherer Zeiten vorzustellen. Wir befinden uns nämlich vor dem ehemaligen Umspannwerk der Stadt Jena, wo einst mit riesigen Schaltern und Hebeln Strom in die richtigen Bahnen gelenkt wurde.

"Imaginata" nennt sich der Verein, der sich Mitte der 90er Jahre zum Ziel gesetzt hat, das Umspannwerk in einen Ideenpark zu verwandeln, in dem gleichermaßen die Phantasie angeregt wie auch physikalische Grundgesetze erlebbar gemacht werden soll. Bis 1992/93 war das Elektrizitätsumspannwerk in Betrieb, 1997 erkannte "Imaginata" die idealen örtlichen Voraussetzungen, hier ihre kühnen Ideen zu verwirklichen. So entstand unter der Leitung des Lehrstuhls für Erziehungswissenschaften der Jenaer Universität ein "Experimentarium für alle Sinne", das in Jena, der Wissenschaftsstadt, seitdem viele Besucher anzieht.

Das Umspannwerk ist in diesem Jahr Thema des "denkmal aktiv"-Projekts am Staatlichen Berufsbildenden Schulzentrum Jena-Göschwitz, Schulteil Jena-Burgau (SBSZ). Die Berufsbildende Schule ist schon erfahrener Teilnehmer des Schulprojekts der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Bereits im dritten Jahr organisiert Schulteilleiter Maik Sterzing die intensive Beschäftigung mit einem Denkmalthema. Im Gegensatz zu vielen anderen "denkmal aktiv"-Schulen muß er bei der Auswahl der Projekte einen besonderen Umstand beachten: Die Schüler der Fachoberschule, Berufsfeld Bautechnik, die hier ihre Fachhochschulreife erwerben, bleiben nur ein Jahr an der SBSZ. Sie alle haben neben dem Realschulabschluß schon eine Berufsausbildung, meist im handwerklichen Bereich, absolviert. Viel Zeit bleibt also nicht - nur zwei Schulstunden pro Woche -, und so ist eine straffe Organisation notwendig. Nach einer Einführungswoche zu Beginn des Schuljahres werden Arbeitsgruppen von zwei bis drei Personen eingerichtet, im Januar steht die Zwischen-, im März vor der Prüfungszeit schon die Endpräsentation an. Zunächst aber gilt es, die "beschulten Handwerker", wie Sterzing seine Zöglinge nennt, an die Ideen des Denkmalschutzes heranzuführen. Nicht jeder Betonbauer kann sich auf den ersten Blick für Fachwerkbauten erwärmen, Zimmerer sehen in ihnen oft nur "gammliges, altes Holz". Doch es hat sich gezeigt: Nach zwei bis drei Tagen hat das Denkmal bis jetzt immer gewonnen. Der Ehrgeiz, auch noch in der hintersten Ecke aufschlußreiche bauhistorische Spuren zu finden, setzt ungeahnte Kräfte frei.

Dieses Jahr also nun das ehemalige Umspannwerk in Jena. Hier treffen wir auf Christin, Ronny, Andreas und Sven, vier der Schüler der SBSZ, die dieses Jahr an "denkmal aktiv" mitmachen. Zunächst zeigen sie uns die Gebäude des Industriedenkmals. Das ältere Schalthaus von 1926 stammt aus den Anfängen der Erzeugung elektrischer Energie, aus den Zeiten, in denen solche Gebäude aus Stolz über die Fortschritte der Technik noch aufwendig gestaltet wurden. Die gestaffelte Kubatur und die Ziegelfriese verleihen dem eigentlich schlichten Backsteinbau eine expressionistische Raffinesse. Das 1942 errichtete, parallel liegende Schalthaus zeigt eine wesentlich einfachere Architektur. Im Umspannwerk erfolgte die Transformation des Stroms zwischen den verschiedenen Spannungsebenen, von Stark- in Netzstrom, wie uns Sven, ausgebildeter Elektroniker und einer der "denkmal aktiv"-Schüler, erklärt. Denn Strom wird zur möglichst verlustarmen Übertragung über unterschiedliche Spannungsebenen transportiert. Im Gebäude zeugen quadratmetergroße Instrumentenwände und mannshohe Isolatoren von seiner früheren Funktion. Die Räume für die Präsentation der spannenden Experimente von "Imaginata", Konferenz- und Verwaltungszimmer sind gefühlvoll in das technische Denkmal eingefügt. Für die Schüler bedeuteten die modernen Seminarräume vor allem auch eine gern genutzte Rückzugsmöglichkeit in die Wärme.

"Imaginata" stellt als Besitzer des Umspannwerks, der seit jeher eng mit der Denkmalschutzbehörde zusammenarbeitet, gerne die Räumlichkeiten für die "denkmal aktiv"-Schüler zur Verfügung. Denn ist die Beschäftigung mit diesen Bauwerken nicht auch eine Art des Erlebens von Technik mit allen Sinnen? Die Isolatoren-Halle zum Beispiel ist Christins Welt. Sie mißt sie maßstabsgetreu, überträgt die Daten zeichnerisch aufs Reißbrett und fertigt ein Aufmaß der Isolatoren und Schaltfelder an. Für sie als gelernte Vermesserin entspricht das zwar ihrem Berufsfeld, aber mit verstaubten Denkmalen hatte sie bislang noch nicht zu tun. Die Untere Denkmalbehörde ist erfreut: Der Museumsteil des Bauwerks ist zeichnerisch noch nicht erfaßt.

Ihre Mitschüler Ronny, Andreas und Sven vermessen die sogenannte Reithalle, ein Nebengebäude auf dem Gelände. Den Namen verdankt sie ihrer weitgespannten stützenfreien Dachkonstruktion. Für Zimmermann Andreas ist die Lösung mit der aussteifenden Brettschalung, die seine Vorgänger vor einigen Jahrzehnten gefunden haben, hochinteressant. Er und Ronny, Holzmechaniker, fertigen mit jeweils unterschiedlichen Computer-Programmen dreidimensionale, digitale Modelle an. Zunächst haben sie per Hand die Halle aufgemessen, später mittels Photogrammetrie ein maßstabsgetreues Bild angefertigt. Hierbei stand ein Fachmann und Kollege aus dem SBSZ Gerät und Rat beiseite. Überhaupt, sagt Schulteilleiter Sterzing, wäre ohne die engagierten - auch außerschulischen - Helfer vieles gar nicht durchzuführen. Industriemeister vom Bildungswerk, Bauhistoriker, Denkmalpfleger und viele andere sind schon seit 2003 bei den diversen "denkmal aktiv"-Projekten dabei, meist in ihrer Freizeit. Ein Netzwerk der Unterstützung wächst heran. Grundlage für diese Entwicklung ist der entsprechende Einsatz von Schülern und Lehrern.

Constanze Richter, eine der betreuenden Lehrerinnen des "denkmal aktiv"-Projekts an der SBSZ Jena-Burgau, hat einen besonderen Bezug zum Umspannwerk Jena-Nord. Ihr Sohn war einer der ersten jungen Teilnehmer der phantasievollen Jahresprojekte der "Imaginata". Der physikalische Abenteuerspielplatz inmitten der eindrucksvollen Backsteingebäude, die vielen Bakelitschalter, alten Schalttafeln und Isolatoren aus Porzellan haben offensichtlich Spuren hinterlassen: Jetzt - zehn Jahre später - hat er mit einem Physikstudium begonnen. Constanze Richter zieht den Vergleich mit dem Kugel-Pendel heran, das natürlich auch auf dem "Imaginata"-Stationenweg zu finden ist: Auf der einen Seite wird eine Kugel angestoßen, der Impuls setzt sich durch eine Reihe von Kugeln fort und läßt auf der anderen Seite die letzte Kugel ausschlagen. Jetzt kann das alte Umspannwerk auch in weiteren Bereichen Impulse schaffen: Den Teilnehmern des diesjährigen "denkmal aktiv"-Projekts der SBSZ, die schon mit einem Bein im Berufsleben stehen, ist der Anstoß für das Verständnis der Belange von Denkmalen gegeben worden - interessant sich vorzustellen, wohin dieser Impuls in den nächsten zehn Jahren ausschlagen wird.

aus: Monumente 05/06 2006